Der Kampf ums Traumhaus
Gerade einmal 70 Einwohner zählt das Dörfchen im Bündner Oberland, in dem Bauer und Pferdezüchter Silvio aufgewachsen ist. Vor über zehn Jahren lernte er seine Partnerin Najat kennen, die als Auszeit-Coach und Make-up-Artistin selbstständig tätig ist. «Schon bald war ich nicht nur in Silvio, sondern auch in die traumhafte Landschaft und in ein ganz bestimmtes Haus verliebt», sagt Najat.
Damals wohnten die beiden noch gemeinsam in einer Haushälfte im gleichen Ort. Doch bei Spaziergängen schlenderten sie immer wieder an einem dreigeschossigen Holzhaus vorbei, das am Ortsrand neben einer Kapelle aus dem 17. und einer Burgfried-Turmruine aus dem 14. Jahrhundert steht. «Die Fensterläden waren immer zu – das hat mich traurig gemacht», sagt Najat, «so ein tolles Haus muss doch mit Leben gefüllt werden.» Auch Silvio hatte das Haus schon viele Jahre im Blick. «Es wurde mir schon einmal von Touristen vor der Nase weggekauft», erinnert er sich, «das hat mich damals ziemlich gereut.»
Ein Leben mit und in der Natur: Das Holzhaus von Najat und Silvio ist von blühenden Wiesen umgeben. In direkter Nachbarschaft stehen ein historischer Turm und eine Kapelle aus dem 17. Jahrhundert.
Sie beginnen von einem Leben in diesem Haus zu träumen, malen sich aus, wie Pferde mit ihren Fohlen über die weiten Wiesen springen, wie sie beide im Obergeschoss Coaching-Gästezimmer einrichten – und das scheinbar verlassene Holzhaus mit Leben und Liebe füllen. «Irgendwann haben wir uns entschieden: Wir kämpfen um unser Traumhaus, machen die Besitzer ausfindig», sagt Najat. Und wie der Zufall so will, möchte die Eigentümerin ihr Feriendomizil tatsächlich veräussern. «Wir konnten unser Glück kaum fassen», sagen beide. Zwei Jahre dauert es, bis der Kauf vollzogen ist und die beiden im Sommer 2016 in ihr Traumhaus ziehen.
Der Umbau: Historisches bewahren
«Hier einzuziehen, war ein echter Herzensentscheid», sagt Najat. Und mit Herz, viel Schweiss und Leidenschaft machen sich die beiden auch daran, ihr Haus zu renovieren. «Das Haus stammt aus dem Jahr 1840 – es hat so viele tolle, alte Elemente», schwärmt Silvio. Ein spezielles Dach, das in dem Örtchen durch einen steilen Fallwinkel auffällt und den rauen Winden hier oben trotzt, ein aufwendig verzierter Holzbalkon, historische Fachwerkbalken, massive Dielen und Türen.
«Das wollten wir alles bewahren, statt zu modernisieren», sagt Silvio. Als Bauernsohn, der selbst in einem Holzhaus im Dorf aufgewachsen ist, ist er ein echter Macher, der fast alles selbst umsetzen kann. Unbedacht übermalte Türen und Wände schleifen oder beizen Najat und er geduldig ab. So lassen sie das Holz wieder zum Vorschein kommen. Und: Sie entscheiden sich gegen eine moderne Heizungsanlage und setzen stattdessen auf alte Specksteinöfen. «Das ist eine Heizkunst, die hier in den Bündner Bergen eine lange Tradition hat», sagt Silvio, «in den kalten Monaten geben die Steine genügend Wärme ab, damit es hier drinnen kuschelig warm und gemütlich ist.»
Die natürliche Wärme und die Tatsache, dass fast alles aus Holz gebaut ist, das knarzt und arbeitet, biete eine sehr behagliche Atmosphäre, in der sich beide zu Hause und aufgehoben fühlen. «Besonders toll ist, dass das komplette Haus aus regionalen Materialien gebaut wurde», sagt Silvio, «das robuste Fichtenholz stammt aus den Bündner Wäldern, der Speckstein aus den Bergen.» Ersatzteile für ein so historisches Haus seien schwer zu finden. «Aber ob Türen, Balken, Scharniere oder Dielen – wir behalten einfach alles und lagern es in der Scheune, falls wir es noch irgendwann brauchen oder verbauen wollen.»
Die gemütliche Stube als Mittelpunkt des Hauses: Auf dem Sofa macht es sich Najat gern mit den Katzen bequem.
Ankommen und sich entfalten
Auch bei der Einrichtung setzt das Paar auf Regionalität: «Wir lieben alte Bauernschränke und Kommoden aus Massivholz», sagt Silvio, «sie haben schöne Details, passen ideal in unser Haus und überdauern viele Generationen, wenn man sie mit Schleifpapier und Öl pflegt.» Ein altes Schaukelpferd schmückt den Flur im zweiten Stock. Eine Jukebox dient den Musikliebhabern, die auch gerne Festivals besuchen, als Unterhaltung und Hingucker. «Und natürlich haben wir auch ein paar Deko-Inspirationen aus Marokko mit eingebaut», sagt Najat, deren Mutter Schweizerin und deren Vater Marokkaner ist. Kissen, Teller und traditionellen marokkanische Lampen setzen neben vielen Grünpflanzen orientalische Akzente.
Die Stube von Najat und Silvio ist gemütlich eingerichtet: Ein grosses Sofa bietet Platz, um die Seele baumeln zu lassen.
Antike Möbel haben es den beiden angetan. Orientalische Teppiche setzen Akzente.
Hier passt alles zusammen: Wände, Böden, Türen und Möbelstücke in dem 1840 erbauten Haus bestehen aus massivem Holz.
Das Zentrum des Raums: Am massiven Holztisch haben neben Najat und Silvio auch Gäste Platz.
Beruflich konnten sich die beiden mit dem Einzug ins Holzhaus voll entfalten: Silvios Pferdezucht wächst stetig. Rund 25 Vollblutaraber, arabische Mischrassen und robuste Schweizer Urfreiberger springen über die Wildwiesen. «Bis zu fünf Fohlen kommen jedes Jahr dazu.»
Und auch Najat hat ihr Coaching-Angebot ausgebaut. «Im Obergeschoss sind drei Gästezimmer entstanden, in denen nicht nur gestresste Manager und Grossstädter, sondern einfach jeder, der mal eine Auszeit benötigt, Ruhe, Erholung und Abstand zum Alltag finden kann», sagt sie. «Mit Unterstützung von Silvio und den Pferden begleite ich Menschen dabei, wieder bei sich selbst anzukommen – das Haus bietet die idealen Bedingungen dafür.»
Najat und Silvio bieten nicht nur Coaching mit Pferden an – die Rösser tun auch ihnen selbst sehr gut.
Und beide planen für ihre Zukunft hier in den Bergen noch so viel mehr: «Unsere neue Hypothek spart uns jeden Monat Geld und bietet uns fünfzehn Jahre Sicherheit», sagt Silvio. «Das ist perfekt, um nach und nach einen weiteren Pferdestall zu bauen, weitere Gästezimmer einzurichten und neue Herzensprojekte umzusetzen.»
In und mit der Natur leben
Hier, mitten in den Bergen, versorgen sich Najat und Silvio so gut es geht selbst. Sie haben drei Kühe, die Milch geben, sowie fleissige, eierlegende Hühner. Und das Paar züchtet nebst den Pferden auch Schafe und Ziegen. «Alte Baumbestände auf unseren Streuobstwiesen schenken uns jedes Jahr frische Äpfel, Birnen und Zwetschgen», so Silvio, «auf einem kleinen Acker bauen wir für uns Kartoffeln und Gemüse an – ausserdem mache ich aus unserer Milch selbst Frisch- und Bergkäse.» Bis in fünfzehn Jahren wollen sich die beiden zu 100 Prozent selbst versorgen: «Dazu planen wir, langfristig auch Photovoltaik-Panels anzuschaffen», sagt Silvio, «das wäre noch ein Schritt weiter in Richtung umfassender Freiheit und Unabhängigkeit.»
So beschwingt kann der Heimweg nach getaner Arbeit sein: Wer träumt nicht von einem so wunderschönen Arbeitsweg wie hier im Bündner Oberland.
Es ist ein Leben mit den Jahreszeiten und Witterungen. Bei Gewitter wird abends gemütlich in der Stube gekuschelt – mit den beiden Hunden und den drei Katzen. Weil Najat auch sehr gerne kocht, vermisst keiner der beiden ein grosses Restaurantangebot, das ihnen die Grossstadt bieten könnte: «Regionale, frische Zutaten, von denen man genau weiss, woher sie kommen, mit Liebe von meiner Frau zubereitet – besser kann man nicht essen», schwärmt Silvio.
Najat ist im Thurgau aufgewachsen: «Das Rätoromanisch war am Anfang schon eine Herausforderung», meint sie lächelnd, «aber mittlerweile verstehe ich sehr viel – ich bin im Bündner Oberland angekommen, das ist jetzt meine Heimat.» Das Leben in und mit der Natur, umgeben von Tieren, Bergen und weiten Wiesen, hat sich Najat schon als Kind ausgemalt. «Mit Silvio lebe ich hier meinen Traum», sagt sie, «ich kann mir kein schöneres Leben vorstellen.»